Flüchtige Hoftreffen Der Hof der Herren von Hradec/Neuhaus am Anfang des 14.
Jahrhunderts
An den Prager Přemyslidenhof begannen die deutschsprachigen Dichter ab der
Mitte der 30er Jahre des 13. Jahrhunderts zu kommen. Sie entdeckten dadurch ein
neues, von der Hofpoesie nicht berührtes Territorium. Nach den Wünschen ihrer Mäzene
sangen sie Minne- und Heldenlyrik. In der zweiten Hälfte der Regierung des
„heldenhaften“ Přemysl Ottokars II. wurde die Alexander-Thematik zum
dauerhafteren Bestandteil der Verherrlichung des böhmischen Königs. Als thematisches
Reservoir galt damals in ganz Europa die berühmte lateinische „Alexandreis“ von
Walther von Chatillon vom Anfang der 70er Jahre des 12. Jahrhunderts. Etwa Einhundert
Jahre später schuf Ulrich von Etzenbach am Přemyslidenhof eines seiner Meisterwerke -
die Prager deutsche „Alexandreis“. Ein Vierteljahrhundert später schöpfte aus
derselben lateinischen Quelle auch die tschechische „Alexandreis“. Sie wurde im
südböhmischen Milieu wahrscheinlich besonders beliebt, wir können darauf mindestens aus
der Tatsache schließen, daß vier von neun bekannten Brüchen gerade hier gefunden
wurden.
Die Mode,
gesungene Poesie zu hören, verbreitete sich in den böhmischen Ländern bald auch an den
adeligen Höfen. Zum „wichtigsten Zentrum der mittelhochdeutschen literarischen
Kultur außer Prag“ (V. Bok) wurde Jindřichův Hradec/Neuhaus. Zu hochgeschätzten
Ritterfeierlichkeiten gehörte hier auch das Vortragen literarischer Werke, und fahrende
Minnesänger gewöhnten sich allmählich an, hier längere Pausen zu machen. Und sie
hatten auch allen Grund dazu. Die Frau des Hauses, die Gräfin Marie, die Ehefrau von
Oldřich I. von Hradec, war durch ihr Interesse an Poesie und durch ihre
Großzügigkeit bekannt. Auf ihre Anregung hin wurden hier 1400 Verse der
Adventsbetrachtung (Zukunft des wahren Gottes) aus Legenda Aurea von Jacobus a Voragine
ins Deutsche übersetzt. Das geschah nur 30 Jahre nach der italienischen Entstehung
des lateinischen Originals, für das Mittelalter sicher keine lange Frist.
Oldřich II.
von Hradec, der Sohn von Marie, erbte die Neigungen seiner Mutter. Ein Beweis blieb
erhalten: Als irgendein Kleriker namens Friedrich am Hof von Hradec die „Alexandreis“
von Ulrich von Etzenbach bearbeitete, wollte er am Schluß des Werkes seinen Mäzenen
preisen, und deshalb arbeitete er in den Text eine Verherrlichung der Ehren des Herrn von
Hradec/Neuhaus ein. Die Feststellung, daß wir in den Handschriften aus dem süddeutschen
und österreichischen Gebiet Details finden, die von der Kenntnis der Alexandreis-Version
aus Jindřichův Hradec/Neuhaus zeugen, führt uns zu dem Schluß, daß der Hof der Herren
von Hradec/Neuhaus am Anfang des 14. Jahrhunderts als imaginäres Tor aus Prag
Richtung Süden diente. Einen Vergleich für so eine Tatsache finden wir in unserer
Geschichte nur sehr sporadisch. |